örtlich schauer

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Gedichte | 2000

am canale della navi kannst du mittags auf dem steg liegen
und wenn du nicht verbrennen willst, laß deine gedanken
zum cimitero san michele fliehen, zurück kommt das grün,
das du brauchst, gehst du später durch cannaregio

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die venezianer unterscheiden sich von den anderen auch
durch den betont schnellen schritt. ausdruck von stolz und
distanz, die stadt nur zu verleihen, niemals zu vergeben
noch heute faltet das licht sich dunkel in den synagogen des ghetto novo.

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das bistro am kanal füllt sich nachmittags gegen fünf mit
den arbeitern, die aus der fabrik strömen und den kurzen
schwarzen schluck aus den winzigen tassen brauchen, der
nirgendwo stärker sein kann. ein verrückter zeigt mir dort
seine weißen hände und über der stadt liegt ein so schwerer
geruch, herb und süß zugleich, daß es dir die sinne verschlägt.
in mira wird waschmittel für halb europa produziert.

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giordano bruno beschützt auch in dieser nacht die irre alte
frau in deren augen aller wahnsinn der scheiterhaufen glüht.
vielleicht gibt es die angst, es selbst zu sein. niemals
wird sie verlacht auf dem campo de fiori.

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langsam wäscht sich der rotbraune staub aus den kleidern.
auf dem grund meiner badewanne liegt rom.

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gegenwärtig sind tausende tschetschenen auf der flucht,
die luftangriffe sind erklärter teil der kompromißlosen gewalt
gegen die abtrünnigen, keine chance den banditen wie es heißt.
der russische plan geht auf,
die kinder mit den zerfetzten leibern haben keine chance.
das vokabular stützt die tatsachen.
heute beginnt die klemperer-serie im fernsehen

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seit vierzehn tagen versuche ich, nicht wahnsinnig zu werden.
der mistral fegt durch st.remy. van gogh war mir noch nie so nah.

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moskau, 4 uhr früh, das mausoleum wird von zwei frauen gründlich gesäubert.
laut hallt der umgestützte blecheimer über den roten platz.

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wie süß kann süßes sein? nicht süßer als zypriotische sirupnüsse.
halt mich fest.

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am cabo de sao vicente ist europa zu ende, ich bewundere
mut und klugheit der weltumsegler, die von ebendiesem ort
ihre schiffe ins ungewisse entließen. kein anhaltspunkt
nirgendwo.nichts. landschaft, die sich nicht gefügig macht.

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